Islam und die Frau

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Das Frauenbild in Islam – Interview für die Abendzeitung

25. Apr 2019 | Islam und die Frau

Interview für die Abendzeitung: Bayerns bekanntester Imam, Benjamin Idriz, hat ein Buch über das Frauenbild im Koran geschrieben. In der AZ spricht er über das Frauenbild im Koran, gefährliche Fehlinterpretationen und die Anschläge von Colombo.

AZ: Herr Idriz, Sie schildern den Islam als friedliche Religion mit einem liebenden Gott. Gleichzeitig morden Terroristen – wie am Ostersonntag auf Sri Lanka – im Namen Allahs. Wie passt das zusammen?

BENJAMIN IDRIZ: Überhaupt nicht. Egal, welche Gruppierung hinter diesem grausamen Terrorakt steht, sie kann sich nicht auf den tröstenden und barmherzigen Gott berufen, an den wir glauben. Es macht uns Gläubige traurig, wenn Menschen im Namen Gottes so etwas tun. Wir beobachten seit ungefähr zwei Monaten ein neues, fremdes Phänomen, das allen Gläubigen weltweit Entsetzen bereitet.

 

AZ: Welches Phänomen?

Idriz: Dass Gotteshäuser Zielscheibe solcher antireligiöser Kräfte werden – und das schürt Angst. Ob das Gotteshaus nun eine Kirche oder eine Moschee ist.

 

AZ: Islamistische Terroristen rechtfertigen ihre Anschläge in der Regel mit dem Koran.

Idriz: Gott spricht im Koran über verschiedene Sünden. Die größte davon ist, Gott für eigene Zwecke zu instrumentalisieren: den Missbrauch der Religion, den Missbrauch Gottes. Deshalb betrachte ich solche Menschen nicht als Muslime, und wenn Christen so etwas machen, kann ich sie auch nicht als Christen betrachten. Dafür habe ich kein Verständnis und null Toleranz. Diejenigen, die solche Terrorakte auf das Schärfste verurteilen, sich mit den Opfern solidarisieren, sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen, für Pluralität in den Religionen, die Gotteshäuser achten und schätzen – das sind die wirklichen Christen, Juden und Muslime.

 

AZ: Selbstmord-Attentäter werden unter anderem mit dem Versprechen gelockt, nach ihrer Tat würden im Paradies 72 Jungfrauen auf sie warten. Sie haben darüber geforscht. Was haben Sie herausgefunden?

Idriz: Dass es sich um religiös begründete Propaganda handelt, mit dem Ziel, Männer für diesen schmutzigen Zweck zu gewinnen. Leider sind viele, viele Menschen wegen dieser Gehirnwäsche ums Leben gekommen. Ich habe mich theologisch mit dieser Erotisierung auseinandergesetzt, und es ist klar, dass das Paradies kein Nachtclub ist. Es ist ein Ort, an dem wir Ruhe und Frieden finden – und zwar Männer und Frauen gleichermaßen. Es ist schon erstaunlich, dass die Koran-Übersetzer das entscheidende arabische Wort huri-‘eyn bisher als „Jungfrauen“ interpretiert haben, obwohl beide Teile männliche Begriffe sind. Es bedeutet Partnerwesen oder Gefährten.

 

AZ: In Ihrem Buch schreiben Sie auch, die verbreitete Annahme, der Koran erlaube es, Frauen zu schlagen, basiere ebenfalls auf einem Übersetzungsfehler, der nun zur Unterdrückung der Frau missbraucht werde. Wie ist das zu verstehen?

Idriz: Gewalt gegen Menschen ist grundsätzlich abscheulich. Das Glück zwischen zwei Partnern kann nur durch Liebe und Barmherzigkeit erlangt werden – so steht es ausdrücklich im Koran. Wie kann Gott, der von uns Liebe und Barmherzigkeit in der Ehe verlangt, auf der anderen Seite Gewalt gegen Frauen legitimieren? Das passt nicht zusammen.

 

AZ: Aber in einer vielzitierten Sure über die Frauen heißt es im Zusammenhang mit Eheproblemen „…dann schlagt sie!“

Idriz: Auch über diesen Satz und vor allem über das Wort da-ra-ba habe ich ausführlich recherchiert. Ich bin zwar nicht der Erste, aber im deutschen Kontext wohl der Einzige, der ausführlich dokumentiert hat, dass dieses Wort eben nicht „schlagt sie“ bedeutet.

 

AZ: Was bedeutet es dann?

Idriz: Gott fordert von uns nicht Gewalt, sondern eine Lösung des Eheproblems: „Trennt euch für eine Weile“. Ich hoffe, dass diejenigen, die den Koran in Zukunft auf Deutsch übersetzen, auf Folgendes achten: Das Wort da-ra-ba kommt über 50 Mal im Koran vor, wird aber nur dieses einzige Mal mit „schlagt sie“ übersetzt. Deshalb lehne ich diese Interpretation strikt ab.

 

AZ: Patriarchalischen Systemen kommt diese Auslegung aber sehr gelegen.

Idriz: Absolut. Bisher haben vor allem Männer den Koran interpretiert. Aber durch die moderne Entwicklung haben jetzt auch Frauen angefangen, sich mit ihm und den Islam-Wissenschaften auseinanderzusetzen. Sie fordern die männlichen Theologen heraus. So ist eine lebendige Diskussion entstanden. Der Koran verlangt diese Diskussion übrigens ausdrücklich – die Sure 58 trägt nicht zufällig den Namen „Diskutantin“. Und Deutschland mit seiner offenen Gesellschaft, in der Freiheit der Meinung und der Wissenschaft herrscht, bietet die Chance zu einer Debatte über alle möglichen theologischen islamischen Themen. In manchen erzkonservativen Gesellschaften würde ich dieses Buch vielleicht nicht herausgeben. Aber hier in Deutschland ermöglicht mir sowohl meine muslimische Gemeinde als auch die Mehrheitsgesellschaft, offen über Frauen-Themen zu schreiben und zu diskutieren. Ich will den Horizont der Muslime erweitern. Sie sollen sehen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, den Koran zu interpretieren als es vor 700 oder 800 Jahren der Fall war.

 

AZ: Wie sind die Reaktionen auf Ihr Buch?

Idriz: Sehr positiv. Die muslimischen Frauen freuen sich – und von den Männern habe ich bisher nichts Negatives gehört.

 

AZ: Ist die Diskussion über einen liberalen Islam mit den vielen Geflüchteten aus konservativen muslimischen Ländern schwieriger geworden?

Idriz: Wir haben tatsächlich Flüchtlinge aus sehr patriarchalischen Gesellschaften. Aber man sollte ihnen nicht pauschal den Vorwurf machen, frauenfeindlich zu sein. Sie sind in einem sehr konservativen Umfeld geboren und haben bislang nichts anderes gesehen. Diese Menschen brauchen jetzt Begleitung. Die muslimischen Akteure, Imame und Theologen müssen diese Brücke schlagen zwischen einer modernen, zeitgemäßen Theologie und einer konservativen, orthodoxen Interpretation des Islams. Und sie sollten klar machen, dass die Frauenrechte in Deutschland hochgehalten werden, die Gleichberechtigung in der Verfassung verankert ist und dass Gewalt nicht geduldet wird. Für einige Männer ist das bitter. Aber mit der Zeit werden auch sie verstehen, dass es für die Menschen besser ist, wenn sie gleichberechtigt sind und alle gleichermaßen ihre Rechte genießen dürfen. Der Prophet war in dieser Hinsicht ein Vorbild für uns Muslime: Er war sehr, sehr frauenfreundlich.

 

AZ: Erreichen Sie die konservativen Männer überhaupt?

Idriz: Für meine Gemeinde kann ich sagen: ja. Am Karfreitag zum Beispiel war die Penzberger Moschee voll – und es waren auch sehr viele Frauen dort. Die Männer sehen, dass die Frauen in Penzberg dem Gebet beiwohnen dürfen und sich anschließend mit den Männern unterhalten. Allein dieses Bild ist für einige, die aus erzkonservativen Umgebungen hierher gekommen sind, etwas Neues. Daraus entstehen Diskussionen und ein neues Islam-Verständnis.

 

AZ: Ist die Zeit reif für Imaminnen?

Idriz: In vielen Ländern studieren Frauen Islamische Theologie. Sie können Kinder unterrichten, Vorträge in der Moschee halten, Seminare oder Workshops. Sie können den Islam und den Koran interpretieren. Der einzige Ort, der laut Überlieferung nur für Männer vorgesehen ist, ist die Gebetsnische, in der der Imam steht. Das kommt daher, dass der Prophet ein Mann war und zu seiner Zeit der einzige Imam. Aber theologisch gesehen gibt es wohl keine Bedenken dagegen, dass eine Frau ein Gebet leiten darf.

 

AZ: Jedoch nicht in der Gebetsnische?

Idriz: Doch. Auch dort. Praktisch ist das allerdings fast unmöglich.

 

AZ: Warum?

Idriz: Das Gebet im Islam hat – anders als im christlichen Gottesdienst – viel mit Körperbewegungen zu tun und manchmal kann ein Gebetsraum sehr eng sein. Deshalb fühlen sich sowohl Männer als auch Frauen wohler, wenn sie unter sich sind. Die wichtigste Voraussetzung für das Gebet ist Konzentration – und die kann ich nur erreichen, wenn ich mich wohlfühle. Deshalb ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, dass eine Frau vorne in der Moschee das Gebet leitet.

 

AZ: In Berlin gibt es seit Kurzem die erste Moschee, die von einer Frau geleitet wird.

Idriz: Sie ist aber weder Imamin noch Theologin. Deutschland ist ein demokratisches Land, in dem jeder Mensch das Recht hat, einen Verein zu gründen. Dieses Recht hat Frau Seyran Ates genutzt, und sie darf deshalb weder bedroht noch beleidigt werden. Aber ich bezweifle, dass die Muslime, auch die liberalen, das gutheißen.

 

AZ: Warum nicht?

Idriz: Auch liberale Musliminnen sagen: Sie wünschen sich, dass sie Zugang zu Moscheen haben, dass sie sich dort wohlfühlen, dem Gebet beiwohnen dürfen und genauso Platz haben wie die Männer. Das muss unbedingt gewährleistet sein. Aber die Person, die das Gebet leitet, muss keine Frau sein. Wenn ein Mann eine schöne Stimme hat, um den Koran zu rezitieren, und das Gebet richtig leitet, sagt eine liberale Frau: Ich bin absolut zufrieden damit.

 

AZ: Ein weiteres Debatten-Thema ist das Kopftuch.

Idriz: Ein Stoff, der Diskussionsstoff bleiben wird. Man muss dabei sehen, in welchem Kontext die Koranverse entstanden sind und welche Intention sie hatten: Der Koran wollte die Frauen in der damaligen Gesellschaft schützen, weil sie von einigen Männern belästigt wurden. Sich zu verhüllen war eine Idee der Prävention. Heute sehen einige Frauen es vielleicht anders: Nämlich so, dass sie erst dann geschützt sind, wenn sie kein Kopftuch tragen – in einem Umfeld, in dem die Männer nicht in der Lage sind, Frauen mit Kopftuch zu dulden; in dem Rechtsradikale, Islamophobe oder Islamhasser die Frauen attackieren. Auch deshalb tragen über 70 Prozent der Musliminnen in Deutschland kein Kopftuch. Die zivilisierte Gesellschaft muss in der Lage sein, kopftuchtragende Frauen zu achten. Das Kopftuch darf nicht dazu führen, dass Frauen noch mehr isoliert werden.

 

AZ: Und wie stehen Sie dazu?

Idriz: Das Kopftuch gehört zwar nicht zu den höchsten religiösen Geboten, ist aber dennoch ein Gebot des Korans. Es hat stark mit der Sozialisation der Gesellschaft zu tun. Daher soll die Frau selbst entscheiden, ob das Kopftuch für sie richtig und gut ist – oder nicht. Ich weiß aber, dass viele Väter darin ein Mittel zum Schutz vor Amoralität sehen.

 

AZ: Glauben Sie, das funktioniert?

Idriz: Nein, aber viele Männer denken so. Ich habe neulich mit einem Vater darüber gesprochen und ihm gesagt: Betet deine Tochter? Respektiert sie ihre Eltern? Hilft sie anderen, ist sie hilfsbereit und barmherzig? Wenn sie das alles macht, ist sie ein gut erzogenes Kind. Das Kopftuch ist nicht deine Sache, sondern ihre. Wir können erklären, aber der Koran verbietet Zwang. Es ist elementar, dass ein Mensch allein für sich Entscheidungen trifft. Deshalb sind Kinder von allem Religiösen, auch vom Fasten und Kopftuchtragen, befreit.

 

AZ: Letzte Frage: 2016 ist die geplante Moschee des Münchner Forums für Islam (MFI) an der Finanzierung gescheitert. Wird es irgendwann eine Moschee in München geben?

Idriz: Leider sind wir in finanzieller Hinsicht nicht weitergekommen, aber die Idee ist weiterhin da. Ein Ort, an dem wir uns offen über Gesellschaft und Religion austauschen können, Muslime wie Nicht-Muslime, fehlt in München. Aber um den Geist des modernen Islam weitergeben zu können, brauchen wir offene und sichtbare Ort. Das ist wichtig für eine gelungene Integration und ein gesundes Islamverständnis.

 

AZ: Wie geht es weiter?

Idriz: Wir geben nicht auf! Am 3. Juli findet eine Sondersitzung des MFI-Kuratoriums mit hochrangigen Gästen wie dem Landesbischof Bedford-Strohm oder dem früheren Landtagspräsidenten Alois Glück statt, auf der wir über das Thema Imam-Ausbildung diskutieren werden – und darüber, eine entsprechende Akademie in München zu gründen.

 

Benjamin Idriz: Der Koran und die Frauen, Guetersloher Verlagshaus, 18 Euro

Interview: Natalie Kettinger