Theologie

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Islam und Reform

16. Apr 2008 | Theologie

Von Imam Benjamin Idriz

Mit Blick auf das Wiederaufleben der Religion in der Welt und das sichtbare Erscheinen des Islams in Europa gewinnt auch die Frage an Bedeutung, inwieweit Religion, insbesondere der Islam, mit der Vernunft in Einklang zu bringen ist. Tatsächlich sollten wir uns weder Religion noch Verstand getrennt und unabhängig voneinander vorstellen.

An 49 Stellen wird im Koran der Begriff „Verstand“ gebraucht und an mehr als zehn Stellen die Frage „Denkt ihr nach?“ gestellt. Das Nachdenken und der Verstand werden an mehr als 60 Stellen betont, und blinder Gehorsam gegenüber anderen wird kritisiert.

Bevor der Koran „Glaub!“ gesagt hat, sagte er „Lies!“ (Koran 69:1-6), weil durch die Vernunft der Glaube gefunden werden kann (Koran 34:6). Mit der Aussage des Korans, dass zuerst das Lesen und danach der Glaube kommt, rückt die Priorität der Information in den Vordergrund.

Glaube, der dem Intellekt vorausginge, wäre demnach mangelhaft. Im Islam hat das wissenschaftliches Forschen ein Nachdenken sowohl über profane wie auch religiöse Themen angeregt. Zu verschiedenen Zeiten sind einzelne Muslime sicherlich an die Grenzen ihres Verstandes gestoßen, für den Islam jedoch war dies nie der Fall. Immer wenn Muslime ihren Verstand zu nutzen wussten, waren sie produktiv und haben sich entwickelt. Wurde der Verstand vernachlässigt, wie es leider gerade heute teilweise zu beobachten ist, kam es zu Fehlentwicklungen, die die Religion verzerren, und die Muslime blieben sowohl in religiöser wie auch in weltlicher Hinsicht rückständig.

Die Zeitalter der Renaissance und der Aufklärung im Westen waren Reaktionen gegen die abwehrende Haltung der Kirche gegenüber der Vernunft. Die Moderne, der Fortschritt und die Überlegenheit der westlichen Zivilisation in Wissenschaft und Technik, sind durch eine klare Trennung zwischen dem Säkularen und dem Sakralen begünstigt worden. Die religiöse Identität der Menschen im Westen hat darunter jedoch gelitten, die Kirchen leerten sich. Heute befindet sich Europa auf dem Weg einer Versöhnung mit seiner Religion, nun aber im Einklang mit dem Intellekt. Echte Aufklärung ist ohne Vernunft nicht denkbar, ohne Rückkopplung mit dem Glauben aber wird sie leer und mangelhaft. So wie die Religion ihre Botschaft ohne den Verstand nicht sinnvoll vermitteln kann, kann auch die Vernunft ohne Glauben nicht tragfähig wirken. Das Wiederaufleben der Religion in Europa sollte zu einer Durchdringung des modernen Denkens mit Geist, zu einem neuen Miteinander von Vernunft und Religion, und in Einklang mit moralischen Kriterien zu einer „neuen Aufklärung“ führen. Europa bereichert die Errungenschaft der Aufklärung jetzt mit religiösen Werten und geht seinen Weg weiter.

In der Frömmigkeit vieler Muslime von heute steht nicht das Wissen im Vordergrund, sondern das Nachahmen. Dadurch haben stark verzerrte Auffassungen Raum gewonnen, die nicht leicht korrigiert werden können. Bei den oft aus ländlichen Regionen nach Europa gekommenen Muslimen ist das Problem teilweise unübersehbar. Muslimische Intellektuelle und Theologen stehen vor einer gewaltigen Herausforderung. Der Idschtihâd, der sich zur Handlung wandelnde kreative Gedanke, ist für den Islam der Mechanismus, der das rationale Denken in Gang bringt. Idschtihad, das Hervorbringen neuer Ideen und Lösungen bei veränderten Verhältnissen, ist wie ein Blutkreislauf. Gefriert er ein, dann gerät das Leben ins Stocken.

Lange Zeit galt unter Muslimen, dass „das Tor zum Idschtihad“ geschlossen wäre. Ihr Denken setzte aus. Mit der Einmischung der Politik in die Religion und der Religion in die Politik ist der Islam in enge, schiefe Bahnen gezwängt worden. In den Köpfen und im Leben der Muslime dominiert nicht ein vernunft- und geistorientierter Islam, sondern ein von Traditionen und Ideologien unterwanderter und gleichsam von schwerer Krankheit gezeichneter Islam. In Europa wird es muslimischen Theologen und Wissenschaftlern heute möglich sein, das Unternehmen Idschtihad wieder in Bewegung zu bringen und die Fehlentwicklungen in der Religion zu korrigieren. Europa bietet den aufgeklärten Muslimen die Chance, eine „islamische Renaissance“ zu verwirklichen.

 

Ist eine Reform des traditionellen Islam möglich?
Unter den Muslimen im Osten wie im Westen wird der Ruf nach Wandel und Weiterentwicklung immer lauter. Die Machthaber sowohl im politischen wie auch im religiösen Bereich beharren dagegen auf der Fortführung der bestehenden Strukturen und Verhältnisse. Die rasante Entwicklung der modernen Welt macht es aber unumgänglich, dass auch Muslime tiefgreifende Veränderungen mit vollziehen. Damit diese Prozesse konstruktiv und erfolgreich verlaufen können, muss auf Grundlage eines erneuerten Denkens ein funktionierender Mechanismus in Gang kommen.

Wieder sind wir beim Prinzip des Idschtihad. Für eine alle Lebensbereiche, vom religiösen Verständnis bis zur gesellschaftlichen Umsetzung umfassende Wandlung halten die zentralen Quellen des Islam, der Koran und die Sunna, die Begriffe Islâh („Verbesserung, Reform“), Taghyîr („Veränderung“) und Tadschdîd („Erneuerung“) bereit. Von Anfang an ist der Islam also auf Wandel, Innovation, oder wie man im Westen sagt, „Reform“ hin angelegt. In der Geschichte der islamischen Welt kommen diese Prozesse immer wieder vor. Freilich aber hatten diejenigen, die Veränderungen wollten, auch gegen Widerstände anzukämpfen, und allzu oft waren und sind nicht sie es, die die Oberhand behielten. Der Geistliche Said Nursi brachte es auf den Punkt: „Die alten Verhältnisse sind nicht mehr gültig; entweder kommen neue Verhältnisse oder ein erbärmliches Verschwinden.“ Dies gilt mehr als jemals zuvor für das 21. Jahrhundert.

Obwohl unter den islamischen Gelehrten heute die traditionalistischen, konservativen Strömungen dominieren, setzen die progressiveren Kräfte unbeirrt ihre Arbeit fort und gewinnen allmählich an Zulauf. So hat in der Türkei die so genannte „Ankara-Schule“ (Ankara Okulu) schon weite Strecken bewältigt und hohes, auch internationales Ansehen erworben. Die Werke von reformorientierten Theologen und Wissenschaftlern in der Türkei haben in letzter Zeit ein breites Echo gefunden. Mit Spannung wird derzeit, ebenfalls aus der Türkei, eine neue Arbeit über Leben und Werk Muhammads aus heutiger Sicht erwartet. Sie wird von einer Gruppe von Wissenschaftlern in Anbindung an die Diyanet-Behörde (Amt für religiöse Angelegenheiten der Türkei) veröffentlicht. Vergleichbare Projekte sind in Ägypten, Malaysia, im Iran und selbst in Saudi-Arabien in Gang.

In Europa sind hier bereits die Arbeiten unter Führung des bosnischen Theologen Husein Djozo wegweisend. An der durch seine Initiative 1977 gegründeten Fakultät für Islamische Studien in Sarajevo werden die Reformgedanken vom Lehrkörper und von den Studierenden engagiert vertreten und weiter geführt. Im Unterschied zu anderen Ländern zeichnet sich Bosnien dadurch aus, dass die Vorgaben der Reformer über den akademischen Bereich hinaus von der breiten Masse der Bevölkerung bereitwillig aufgenommen werden. Weil die entsprechenden Arbeiten noch kaum in andere Sprachen übersetzt sind, haben sie noch nicht den Bekanntheitsgrad über Bosnien und die angrenzenden Länder hinaus erlangt, den sie verdienen und sicherlich in Zukunft auch erreichen werden.

In Westeuropa lässt sich seit einigen Jahren eine erhebliche Zunahme von Berichten und Publikationen über islamische Themen beobachten. Hier muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass speziell von den Medien als so genannte Islamexperten präsentierte Publizisten mit mehr oder weniger fundierten Kenntnissen in Islamwissenschaft unter Umständen weniger auf eine Reform, als auf eine Deformation des Islam abzielen. Solche Richtungen sind kontraproduktiv, weil sie Schatten auf die seriöse wissenschaftliche Forschung werfen und Öl ins Feuer der Kritiker echter Reformbemühungen gießen.

Die Fundamente für die heute zunehmend spürbaren Prozesse wurden schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gelegt. Als mit dem Einfrieren wissenschaftlicher Betätigung das „Tor zum Idschtihad“ im Mittelalter geschlossen wurde und religiöser Traditionalismus und Aberglaube zunahmen, wurden keine ernsthaften Auswege aus den sozialen, ökonomischen und politischen Problemen der islamischen Länder mehr verfolgt. Stattdessen kam nun eine „gedankliche Auferstehung“ in Gang, die in den Schriften zahlreicher Intellektueller des letzten Jahrhunderts aufscheint. Dazu gehören etwa Djamaluddin al-Afghani, Muhammad Abduh, Rashid Rida, Mahmud Shaltut, M. Akif Ersoy, Muhammad Iqbal, Fazlur Rahman und viele andere. Sie haben vor dem Hintergrund der jeweiligen Verhältnisse ihres Landes und ihrer Zeit neue Interpretationen geliefert und Forderungen nach Wandel und Entwicklung zur Sprache gebracht. Ihnen folgen nun mit noch fortschrittlicheren Arbeiten die Erneuerer des 21. Jahrhunderts. In dem dreibändigen Werk „Die Erneuerer des Islam“ (türk.: Islam Yenilikçileri) von R. Ihsan Eliaçık werden die Persönlichkeiten, die seit den Anfängen bis heute für entsprechendes Denken und entsprechende Prozesse stehen, in eindrucksvoller Fülle dargestellt.

Seit auf verschiedenen Kontinenten der Wind von Wandel und Reform spürbar ist, wird in der islamischen Welt von einer neuen islamischen Aufklärung gesprochen. Gerade in Europa, auch in Deutschland, müssen Muslime auf allen Ebenen verstärkt und federführend neue Antworten suchen und bereitstellen. Ganz vorne steht in dieser Hinsicht die Auseinandersetzung mit dem Thema Frau im Islam. Aus traditionell praktisch ausschließlich männlicher Perspektive interpretiert, haben Kommentare zu Koran und Hadith (das Wort, die Anweisung und das Tun des Propheten) immer wieder zu frauenfeindlichen Diskursen und zur Missachtung von Gleichheitsprinzipien geführt. Es muss nun, wie dies in der Diskussion im Westen und zunehmend nun auch im Osten geschieht, die Perspektive der Frau in den Vordergrund rücken.

Die 58. Sure des Korans trägt den Titel al-Mudschadileh, „die debattierende Frau“ (oder: al-Mudschadalah, „die Debatte“). Er geht zurück auf eine Diskussion zur Zeit des Propheten Muhammad, die von einer Frau eingebracht und angeregt worden war, woraufhin das zugrunde liegende Problem gelöst werden konnte. Dank ihrer eigenen Initiativen wird sich die Stellung der Frau in der Gesellschaft Tag für Tag weiter verbessern, und je mehr sie sich verbessert, desto schneller wird auch die Integration voranschreiten. Der Islam ist eine zeitgemäße Religion, zu dem das im Lauf der Zeit entstandene, rückständige Image der Frau in eklatantem Widerspruch steht.

Von der Feststellung des Propheten Muhammad ausgehend: „die Frauen sind die Schwestern der Männer“, können die Musliminnen und Muslime der neuen europäischen Generation, in den Gemeinden beginnend, der Frau in der Gesellschaft zu ihrer verdienten, führenden Rolle verhelfen. Durch Bildung und Erziehung müssen vorhandene Tabus überwunden werden. In den Moscheen müssen Themen wie Klassenfahrten, Schwimmunterricht, Liebe, Partnerwahl, Polygamie, Erbrecht, Scheidungsrecht, Bedeckung, gesellschaftliche Teilhabe, Leitungsanspruch, Diskriminierung und Gleichstellung zwischen Mann und Frau, Gewalt in der Familie, so genannte „Ehrenmorde“ und viele andere Frauen- und Familienfragen offensiv in Vorträgen, Seminaren und Konferenzen angegangen werden.

So wie es zur Zeit des Propheten Muhammad der Fall war, müssen solche Themen nach dem Vorbild der Sure „die Debatte“ heute und morgen objektiv und öffentlich in den Gemeinden diskutiert werden.